Max Seeck: Waiseninsel

Waiseninsel ist der vierte Fall für die finnische Kommissarin Jessica Niemi. Alles dreht sich um ein Mädchen in blauem Mantel. Ich kenne die ersten drei Bände nicht, habe mich aber auch als Starterin gut unterhalten gefühlt.

Gegenwart

Jessica Niemi ermittelt normalerweise in Helsinki. Wenn man es harmlos ausdrückt, könnte man sagen, sie ist etwas schwierig. Zwar ist sie die erfolgreichste Ermittlerin in Finnland, ist aber im Umgang sperrig, hat Halluzinationen, nimmt zu viele Medikamente und kommt nicht besonders sympathisch rüber. Als sie sich nach einer Therapiesitzung in einem Hinterhof übergeben muss, wird sie dort vom Hausmeister zur Rede gestellt, der sie für eine Drogensüchtige hält. Beide geraten in Streit, Jessica schlägt den Mann zusammen. Natürlich hält ein Anwohner das Ganze mit der Handykamera fest und stellt den Film ins Netz. Der Clip mit der Promi-Ermittlerin geht viral und sie wird suspendiert. Den Zwangsurlaub verbringt sie im November auf einer recht ungemütlichen Insel zwischen Finnland und Schweden, wo es nur wenige Häuser und ein Hotel gibt. Abstand bekommt sie dort aber nicht, denn kurz nach ihrer Ankunft wird eine alte Frau, die ebenfalls Gast im Hotel war, ermordet. Auf der Insel wurde jahrzehntelang ein Waisenhaus betrieben. Seit vielen Jahren treffen sich die letzten Bewohner einmal im Jahr auf der Insel. Eine von ihnen, Elisabeth, ist das Mordopfer.  

Vergangenheit

Während des Winterkrieges (1939/1940) wurden im Waisenhaus auf der Insel Kinder untergebracht, die aus Finnland fliehen mussten. Einige wurden vorübergehend oder dauerhaft von schwedischen Familien aufgenommen, andere konnten nach dem Krieg zu ihrer eigenen Familie zurückkehren. Seit Jahrzehnten steht das Haus leer, verfällt und ist Schauplatz einer Legende. Es geht darin um ein Mädchen in blauem Mantel, dass immer wieder von Urlaubern und Insulanern gesehen worden sein soll. Dieses Mädchen ist Maija, auch sie lebte im Waisenhaus. Ihr Vater schrieb ihr während der kriegsbedingten Trennung regelmäßig Briefe und versprach sie abzuholen, sobald der Krieg es zulässt. Als er sich tatsächlich auf den Weg macht, kentert sein Boot und er ertrinkt. Lange nach seinem Tod erhält Maija einen weiteren Brief, in dem ihr Vater schreibt, er sei noch am Leben und werde sie so bald wie möglich holen, sie solle nachts um 2 am Bootssteg auf ihn warten. Von da an steht Maija jede Nacht am Ufer und wartet, bis sie eines Tages verschwunden, vermutlich ertrunken, ist. Der letzte Brief stammte nicht von ihrem Vater, sondern von Elisabeth, die Maija die Zeit im Waisenhaus mit ihren Quälereien schlimm gestaltet hat.

Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen

Alle, die damals beteiligt waren, sind inzwischen weit über 80 Jahre alt. Wie kann es also sein, dass man immer noch ein Mädchen am Bootssteg sieht? Und wer trachtet den letzten noch lebenden Waisenhausbewohnern nach dem Leben? Jessica beginnt ohne Befugnis zu ermitteln und stößt auf eine Reihe von Tatverdächtigen. Dabei weiß sie nicht, ob sie ihren Gedanken und Ergebnissen überhaupt trauen kann oder ob sie nur Halluzinationen sind. Verdächtige gibt es genug, die Insel in tosendem Sturm macht die Handlung zu einem Kammerspiel mit einer begrenzten Anzahl von Mitspielern, die nicht entkommen können und alle Mörder sein könnten.

Meine Meinung

Ich habe mich mit dem Buch zunächst ganz schön schwergetan, was mit Sicherheit daran liegt, dass ich mit Band 4 eingestiegen bin. Dem Thriller-Plot konnte ich sehr gut folgen, gefehlt hat mir ein Bezug zur Hauptfigur. Jessica Niemi war mir mindestens bis zur Hälfte des Buches einfach nur unsympathisch, ich konnte nichts an ihr entdecken, was mich fasziniert oder interessiert hat. Man kann natürlich auch für Figuren, die man nicht mag ein Interesse entwickeln, aber auch das ging mir völlig ab. Vermutlich weiß man aus den vorherigen Teilen, warum sie so geworden ist, wie sie ist. Hier gab es nur kurze Anspielungen, mit denen ich nicht viel anfangen konnte. Ein Partner oder sehr guter Freund ist vor kurzem gestorben, es gibt seit längerem psychische Probleme und auch ein verworrenes Familienkonstrukt. Was genau dahinter steckt, ist mir bis jetzt immer noch nicht klar. Im Laufe des Buches tritt aber Jessica Niemi, obwohl sie ermittelt, etwas in den Hintergrund und die Historie und andere Personen nehmen mehr Raum ein. Ab diesem Moment habe ich mich mit diesem Thriller angefreundet und wollte unbedingt wissen, was es mit dem Mädchen im blauen Mantel auf sich hat. Natürlich habe ich mitgerätselt und bin auch in einige Fallen getappt. Wie auch schon in anderen Thrillern bin ich mal wieder erschreckt darüber, wie man im vergangenen Jahrhundert mit Kindern umgegangen ist und wie wenig Rücksicht man auf deren Psyche genommen hat. Hierzu kann ich euch auch Line Holm/Stine Bolther: Gefrorenes Herz empfehlen, dass ich 2022 vorgestellt habe.

In Kürze

Titel: Waiseninsel

Autorin: Max Seeck

Verlag: Lübbe

Erschienen: 2023

Preis: 17 Euro

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