Dieses Buch führt uns ins Italien der 1970er Jahre. Ausgesucht habe ich es, weil mich die Vater-Tochter-Geschichte interessiert hat. Obendrauf gibt es eine interessante und erschütternde Reise in die italienische Vergangenheit.
Darum geht’s
Wir haben es hier mit einem autofiktionalen Text zu tun. Der Vater der Autorin stirbt als sie 24 ist. Das Verhältnis der beiden war nicht besonders gut, Marta ist bei ihrer Mutter aufgewachsenen, ihr Vater Leonardo und sie waren beide dickköpfig, sind häufig aneinandergeraten und haben wenig über persönliche Dinge gesprochen. Für Marta war Leonardo eine gescheiterte Existenz. Mit 27 zieht Marta von Turin nach Mailand, die Mutter beginnt damit, ihre Wohnung auszumisten und findet dabei Prozessunterlagen. Leonardo stand vor Gericht, weil er einen Terroristen medizinisch versorgt haben soll und wurde freigesprochen. Marta interessiert sich zunächst nicht besonders für die Papiere, weil ihr das Urteil bekannt war, hat aber allein in der fremden, neuen Stadt viel Zeit zum Nachdenken und beginnt darüber nachzugrübeln, wer ihr Vater eigentlich wirklich war. Sie recherchiert in Archiven, sieht sich alte Dokumentationen an und nimmt Kontakt zu Freuden und Wegbegleitern ihres Vaters auf. Je mehr sie über sein Leben erfährt, umso größer wird ihr Wunsch, ein Buch über 15 Jahre seines Lebens zu schreiben, über die sie so gut wie nichts wusste, die aber ein wichtiger Teil für ihn und für Norditalien waren.
Marta Barone nimmt uns mit auf ihren Recherche- und Schreibweg und lässt uns so an dem immer klareren Bild, das sie über ihren Vater bekommt, teilhaben.
Ein Vater mit vielen Gesichtern
Leonardo Barone hat Frau und Kind verlassen, als Marta drei Jahre alt war. Er war trotzdem immer präsent, ist mit der Kleinen in den Urlaub gefahren und hatte bis zu seinem Tod ein freundschaftliches Verhältnis zu seiner Exfrau.
Bei Martas Geburt war er 42 Jahre alt und hatte Medizin und Jura studiert, mit 52 machte er noch einen Abschluss in Psychologie. Leonardo war also sehr gebildet, aber Zeit seines Lebens immer arm, weil er alles, was er hatte, mit anderen geteilt hat.
Wie viele andere junge Männer aus Süditalien machte er sich auf in den Norden, um dort Geld zu verdienen. Die meisten von ihnen landeten in Turin, in der Fabricca, wie die FIAT-Werke genannt wurden. Zeitweise arbeiteten dort weit mehr als 150.000 Menschen unter oft erbärmlichen Umständen. Die Mitarbeiter und ihre Familien wurden unter unwürdigen Bedingungen untergebracht, die man in diesem Buch eindrücklich kennenlernt. Es kommt zu langandauernden Streiks, bei denen Leonardo immer vorne dabei ist. Er hat sich schon in den 1960er Jahren den Kommunisten der Gruppe Prima Linea angeschlossen. Dort gelten strenge Regeln. Intellektuelle wie Leonardo sollten proletarisiert werden, arbeiten also nicht in ihrem studierten Beruf, sondern als einfache Arbeiter. Was sie besitzen, wird abgegeben. Sogar die Ehepartner werden von der Gruppe ausgewählt. Hier ordnet sich Leonardo unter.
Im Laufe der Zeit werden aus den friedlichen Protesten gewalttätige Auseinandersetzungen. Auf Seiten der Kommunisten und auf Seiten der Polizei gibt es Todesopfer, denn bei den Demos wird scharf geschossen. Der Kreis um Leonardo protestiert, renoviert aber auch die Wohnungen der Arbeiter, um ihnen ein würdigeres Leben zu ermöglichen. Die Situation spitzt sich immer weiter zu, so dass aus dem linken Jugendbündnis schließlich ein militärisches Netzwerk wird, das zahlreiche Anschläge begeht und deren Mitglieder als Terroristen eingestuft werden.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt will sich Leonardo zurückziehen, er wird aber mehrmals verhaftet und als er schließlich freigesprochen wird, gehen viele seiner Leute davon aus, dass er von der Kronzeugenregelung Gebrauch gemacht hat und sehen ihn daher als Verräter an.
Der geschichtliche Hintergrund
Mir war vor diesem Buch nichts über diese Zeit in Italien bekannt und ich fand es sehr interessant einen Blick auf die Proteste und die Beteiligten zu werfen. Die Autorin beruft sich auf Dokumente, die allerdings in den meisten Fällen von kommunistischer Seite erstellt wurden. Dass sie einseitig berichtet, kann man ihr dabei nicht vorwerfen, denn sie zeigt auch, welche Fehler gemacht wurden und wann beispielsweise auch Unschuldige getötet wurden.
Einige Dinge, die sie beschreibt, sind hart zu verdauen. Das betrifft zum Beispiel die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Fabrikarbeiter, aber auch die Behandlung von psychisch kranken Kindern. Ihre Misshandlung in einer bestimmten Klinik, deren Chefarzt von den Terroristen später schwer verletzt wurde, war der Grund dafür, dass Leonardo in fortgeschrittenem Alter noch Psychologie studierte. Sein Ziel war es, diesen Kindern zu helfen.
Diese Hilfsbereitschaft ist ein Motiv, dass sich durch sein gesamtes Leben zieht. Es ist interessant, dass seine Wegbegleiter auch nach Jahrzehnten, auch wenn man sich längst aus den Augen verloren hat, auch wenn man im Streit auseinander gegangen ist, immer noch mit Hochachtung von ihm sprechen und sagen „er leuchtete hell“.
Für seine Tochter war er eine gescheiterte Existenz, weil er zuletzt ohne Geld, mit wenigen Freuden dastand und sich immer mehr schlecht als recht durchgeschlagen hat. Erst ein alter Bekannter zeigt ihr eine neue Sicht, in dem er sagt: “Er war doch bis zum Schluss für Menschen da, die ihn gebraucht haben.“
Meine Meinung
Das ist ein lesenswertes Buch, das Geschichte lebendig macht. Ohne auf dieses Buch gestoßen zu sein, hätte ich mich mit dieser dunklen Epoche nicht beschäftigt. Auch wenn ich zunächst etwas enttäuscht war, dass die politische Seite viel Raum einnimmt und damit das Vater-Tochter-Ding etwas zurückdrängt, bin ich immer tiefer in dieses Thema eingetaucht und habe mich gut informiert gefühlt. Es ist kein Geschichtsbuch im klassischen Sinn, zeigt aber dennoch viel über das Denken und Handeln im linken Milieu und dazu wie aus „gut gemeint“ relativ schnell grausame Taten entstehen können, wenn die eigene Ideologie über alles andere gestellt wird.
Gut hat mir gefallen, dass die Autorin ihren Vater weder heroisiert noch verteufelt. Sie sucht verzweifelt nach dem Kern, der Wahrhaftigkeit, vielleicht auch dem Sinn seiner Existenz und zeigt dabei auch, welche emotionalen Schwierigkeiten sie damit hat und auf welche Probleme sie bei den Recherchen stößt. Deshalb gibt es durchaus auch Lücken in der Erzählung, weil sie über manche Zeiträume keine Informationen finden konnte. Dies macht dieses Buch sehr realistisch und nachvollziehbar.
Empfehlen kann ich es allen, die sich für Ereignisse der jüngeren Vergangenheit interessieren und einen Blick auf geschichtliche Themen werfen wollen, die bei uns bisher kaum bekannt sind.
In Kürze
Titel: Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand
Autorin: Marta Barone
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Erschienen: 2024
Preis: 24 Euro