Das erste, was mir an diesem Buch aufgefallen ist, ist der Einband. Es ist doch heutzutage so, dass fast jedes Hardcoverbuch in einen praktischen Einband eingeschlagen wird, der meistens an Plastik erinnert und am besten auch noch abwaschbar ist. Ich habe da bisher gar nicht besonders drauf geachtet – bis ich dieses Buch in die Hand genommen habe und es sich so anders anfühlte. Leichter, weicher, angenehmer. Es ist einfach nur in einen Umschlag aus Papier gehüllt und das ist tatsächlich haptisch ein ganz ungewohntes und sehr schönes Gefühl.
Darum geht’s
Ich habe euch in meinem Blog in den vergangenen Jahren schon zwei Schulman-Bücher vorgestellt, von denen ich völlig begeistert war. Dieses hier ist eigentlich sein erstes Buch, bereits 2015 erschienen und erst jetzt aus dem Schwedischen übersetzt. Und diese Erzählung hat mich umgehauen, weil sie so nah dran ist am Leben und Alex Schulman uns ganz tief in seine Seele blicken lässt, denn es geht vor allem um ihn und die Beziehung zu seiner Mutter.
Zu Beginn des Buches macht sich Alex Schulman mit seinen Brüdern auf den Weg zum Sommerhaus der Familie. Dort hat sich die Mutter in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen und es besteht die Gefahr, dass sie sich dort zu Tode säuft. Die drei Männer versuchen sie zu überzeugen, sich in eine Entziehungskur zu begeben und für den Autor beginnt die Auseinandersetzung mit der Frage, wie aus seiner großartigen Mutter ein solches Wrack werden konnte und welche Rolle er dabei gespielt hat.
Anhand von kleinen Anekdoten und Erinnerungen lernen wir die Familie näher kennen. Drei Jungs, eine schöne blühende Mutter und ein deutlich älterer Vater. Er der Planer, der Versorger der Familie, für den alles eine feste Struktur haben muss, sie der Freigeist, beruflich kreativ-erfolgreich, liebevoll, manchmal mit verrückten Ideen und immer für einen Spaß zu haben. Der Alkohol hielt schleichend Einzug, erst an entspannten Abenden in Gesellschaft, dann immer öfter auch tagsüber alleine. Und der kleine Alexander, der dabei hilft, dies zu verbergen, der die Weingläser spült und mit seinen Brüdern die leeren Flaschen entsorgt, um sich vom Pfand das Taschengeld aufzubessern. Seit mehr als 30 Jahren ist das Trinken ein offenes Geheimnis über das niemand spricht. Der Umgang mit der Mutter ist wie ein Lauf auf rohen Eiern, Alex versucht verzweifelt, keinen falschen Schritt zu machen, um zu verhindern, dass seine Mama ausrastet und wütend wird. Seine schlimmste Strafe ist es, wenn sie ihn ignoriert und einfach so tut als gäbe es ihn nicht.
Auch als erwachsener Mann versucht er noch Mamas Launen im Zaum zu halten, ihr alles recht zu machen, ihre Ausfälligkeiten zu ignorieren, sie zu schonen und jeden Konflikt zu vermeiden. All das führt schließlich dazu, dass er unter Panikattacken leidet und sich selbst in eine Therapie begeben muss.
Meine Meinung
Dieses Buch ist emotional harte Kost. Der kleine Alexander, der verzweifelt versucht, seine lebenslustige Mama wieder zu bekommen. Irgendwo in dieser unsympathischen, ständig betrunkenen Frau muss sie doch stecken. Der Junge, der alles tut, damit es ihr gut geht, ständig Rücksicht nimmt, alle seine Wünsche hintenanstellt, um Konflikte zu vermeiden, hat mir fast das Herz gebrochen.
Die geistige Abwesenheit der Mutter, die die Kinder weit von sich schiebt und der Vater, der immer nur sagt: „Wir müssen Rücksicht nehmen, der Mama geht es gerade nicht so gut“ und deshalb auch keine Hilfe ist, sind zu viel für eine Kinderseele.
Wie die Mutter sich verhält, wie das bei dem Kind ankommt, ist so klar formuliert, dass man sich diesem Buch einfach nicht entziehen kann. Es tut weh, ist aber gleichzeitig auch wunderschön, wenn man von den kleinen Momenten liest, in denen das Familienleben streckenweise auch fabelhaft sein konnte.
Ganz nebenbei hat es mich, gerade aus Stockholm zurückgekehrt, sehr gefreut, dass ich einige der beschriebenen Orte wiedererkannt habe.
Dieses Buch hat bei mir viele Emotionen ausgelöst: Wut, Trauer, Liebe, ich war gerührt und stinksauer und manchmal auch beides gleichzeitig. Und gerade deshalb finde ich es großartig. Meistens gebe ich Bücher weiter, nachdem ich sie gelesen habe, dieses wird einen festen Platz in meiner Bibliothek bekommen.
In Kürze
Titel: Vergiss mich
Autor: Alex Schulman
Verlag: dtv
Erschienen: 2025
Preis: 23 Euro