Bei diesem Buch habe ich mich gefragt, ob es wirklich ein Roman ist oder ob es sich um ein Sachbuch über Gehörlosigkeit handelt, das sich als Roman verkleidet hat. In der ersten Hälfte kommt die Handlung nicht wirklich voran, weil viel erklärt wird. Interessant ist es trotzdem, aber völlig anders als ich erwartet habe.
Darum geht es
Die Geschichte spielt an der River Valley School, einer Schule für Gehörlose. Schulleiterin February Waters ist als Tochter nicht-hörender Eltern aufgewachsen und fühlt sich in beiden Welten zu Hause. Sie lebt mit ihrer Ehefrau und Mutter in einem kleinen Haus auf dem Internatsgelände.
Charlie ist neu an der Schule und etwas rebellisch. Ihr Problem: Sie ist die einzige Gehörlose in ihrer Familie und konnte jahrelang mit niemandem kommunizieren. Ihre Eltern hatten sich von Ärzten davon überzeugen lassen, dass die Gebärdensprache sie daran hindern würde, sprechen zu lernen und haben ihr das Erlernen verboten. Stattdessen wurde ihr ein Cochlea Implantat eingesetzt, das es ihr kurzzeitig ermöglicht hat, ein wenig zu hören, aber nicht richtig funktioniert und daher eher hindert als weiterhilft. Bisher hat sie die Hänseleien und das Mobbing an einer öffentlichen Schule erleiden müssen und muss jetzt im Internat in einer ganz neuen Community Fuß fassen.
Austin soll Charlie dabei helfen, sich zurechtzufinden. Er gehört zur High Society der Gehörlosen, denn in seiner Familie sind seit Generationen alle taub und haben sich einen Namen in der Gehörlosenszene gemacht. Sein Vater hat als Hörender in die Familie einheiratet. Zwischen Austin und Charlie knistert es relativ schnell, es stehen aber noch einige Hürden im Weg. Zum Beispiel wird Austins kleine Schwester hörend geboren, was den Gehörlosen fast wie eine Behinderung erscheint. Dass sein Vater sich sehr darüber freut, kränkt Austin zutiefst.
Allen steht ein gemeinsames Problem ins Haus, denn das Internat soll geschlossen werden. Die Schulleiterin nimmt den Kampf auf und auch die pubertierenden Schülerinnen und Schüler müssen einen Weg finden, mit ihrer Wut auf das Leben und die Einschränkungen, die die Umwelt ihnen auferlegt, umzugehen. Charlie hat immer noch Kontakt zu einem ehemaligen Mitschüler, mit dem sie immer mal wieder etwas hatte. Der ist inzwischen in einer Anarcho-Szene unterwegs und verübt kleine Anschläge, um die Ungerechtigkeit der Welt anzuprangern. An ihn wendet sich Charlie und zieht Austin und einen weiteren Schüler mit in eine ganz und gar dumme Idee hinein….
Infomationen rund um Gehörlosigkeit
Das Buch hat etwa 450 Seiten, den oben beschriebenen Inhalt hätte man sicherlich auch mit halb so vielen Seiten erzählen können. Ein großer Teil des Buches sind Informationen zur Gebärdensprache, man kann einfache Gesten auch mit Hilfe der Beschreibungen lernen und historische Abrisse über Kämpfe, die Gehörlose in den USA ausgetragen haben. Man erhält auch viele Hintergrundinformationen über frühere und heutige Erziehungsmaßnahmen für Gehörlose oder über technische Möglichkeiten, das Hören zu verstärken.
Meine Meinung
Ich habe vieles erfahren, was ich bisher nicht über das Leben als nicht-hörender Mensch wusste. Das war interessant und hat mir das Gefühl vermittelt, etwas völlig Neues erfahren zu haben. Als gesonderte Infoblöcke, die zwar in den Text eingefügt sind und nicht etwa am Ende des Buches zu finden sind, hat mir das gut gefallen.
Etwas schwer getan habe ich mich mit den vielen Informationen, die in den eigentlichen Roman eingeflochten wurden. Als Leserin wollte ich wissen, wie es mit der jungen Liebe weitergeht oder ob die Schulleiterin doch noch mal was mit einer Ex anfängt – stattdessen gab es einen Exkurs in die Phonetik und das Lippenlesen, was ich gerne gewusst hätte, was mich aber mitten im Roman eher gestört hat. Dieser erhobene Zeigefinger, dieses „jetzt erkläre ich dir aber noch mal ganz genau, wie unsere Welt funktioniert“ zieht sich durch das gesamte Buch und gibt der Geschichte eine ziemliche Schwere, die eigentlich nicht nötig wäre. Vieles wäre in einem Sachbuch vielleicht besser aufgehoben.
Auf der anderen Seite muss ich aber sagen, dass es ein geschickter Schachzug der Autorin ist, diese ganzen Infos in einem Schulroman unterzubringen. Denn ganz ehrlich, wer würde ein Sachbuch über Gehörlosigkeit kaufen? Mit diesem New York Times Bestseller wird sie unfassbar viele Menschen erreicht haben, die sonst nie solche Einblicke bekommen hätten und nach dem Lesen wahrscheinlich an der einen oder anderen Stelle mehr Verständnis zeigen werden. Ich nehme zum Beispiel für mich noch einmal mit, wie wichtig die Barrierefreiheit von Texten und Videos ist.
Auch wenn ich nicht zu hundert Prozent überzeugt bin, ist es trotzdem ein sehr wichtiges Buch, das ich gerne weiterempfehle.
In Kürze
Titel: Klartext
Autorin Sara Novic
Verlag: btb
Erschienen: 2025
Preis: 24 Euro