Die Geschichte spielt im Kaiserreich, 1914 in Berlin. Im Mittelpunkt stehen drei junge Männer: ein angehender Theologiestudent, ein Diener und der Bote einer edlen Schneiderei. Sie haben wenig gemeinsam, bis auf die Tatsache, dass sie alle schwarz sind. Diese Gemeinsamkeit führt sie zusammen, denn alle haben aufgrund ihrer Hautfarbe schlechte Erfahrungen gemacht. Der künftige Theologe Thomas, der nur deshalb noch nicht studiert, weil ihn kein Studienseminar aufnehmen will, verkehrt in höheren Kreisen und hat dadurch Kontakt zur Fabrikantentochter Florentine, die allem entgegensteht, was zu dieser Zeit „typisch Frau“ ist. Sie sucht Freiheit und Abenteuer und genießt daher die heimlichen und doch harmlosen Treffen mit den Männern.
In ihren Gesprächen kommen sie allerdings immer wieder auf dasselbe Thema zurück: Die Gräueltaten, die von den Deutschen in den afrikanischen Kolonien begangen wurden. Sie beschließen, dass sie sich für diese Verbrechen rächen müssen und töten einen Soldaten. Die Tat bleibt allerdings unbeachtet, sie wird noch nicht einmal in der Zeitung erwähnt. Also töten sie noch einen zweiten Soldaten. Als auch dieser Mord keine Wirkung zeigt wollen sie etwas größeres tun, dass mehr Aufmerksamkeit bekommt. Sie wollen den Kaiser töten. Bei einer öffentlichen Veranstaltung soll er auf offener Straße erschossen werden. Die Vier planen das Attentat bis ins kleinste Detail, aber auch hier wird ihnen die Hautfarbe wieder einen Strich durch die Rechnung machen. Aber aufgeben ist nicht ihr Ding und so wird schon bald der nächste Schritt geplant: das Schloss, in dem der Kaiser wohnt, soll in die Luft gesprengt werden.
Historische Wahrheit als Krimi?
Vieles an diesem Buch könnte genauso so passiert sein, es steckt aber natürlich auch jede Menge Fiktion darin. Deutlich wird auf jeden Fall ein großer Alltagsrassismus und das Desinteresse an dem, was in den Kolonien passiert ist. Die Figur der Florentine zeigt deutlich die Benachteiligung von Frauen in dieser Zeit als das Wahlrecht noch einige Jahre in der Zukunft lag. Ein Attentat auf den Kaiser war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht unwahrscheinlich, damals wurde in Europa etwa einmal pro Jahr ein Monarch oder führender Politiker Opfer eines Anschlags. Rein historisch gesehen hat Autor Max Annas also sehr viel richtig gemacht. Wenn ihr euch auch mal mit einem Sachbuch zum Thema Kolonien beschäftigen möchtet, habe ich hier noch einen Buchtipp für euch: Eva-Maria Schnurr/Frank Patalong: Deutschland, deine Kolonien
Obwohl die Morde blutig sind und die Terroristen vor Gewalt nicht zurückschrecken, ist dieses Buch für mich kein Krimi. Es wurde vom Verlag auch als Roman gekennzeichnet. Die Taten, gut geplant und mit Zielstrebigkeit ausgeführt, stehen nicht wirklich im Mittelpunkt der Handlung. Sie passieren einfach und sind zumeist nach wenigen Seiten schon wieder vorbei. Bei einem Autor, der fünfmal mit den dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde, habe ich in der Richtung etwas mehr Spannung erwartet. Wenn man den Krimi-Gedanken aber zur Seite schiebt, hat das Buch dennoch viele sehr interessante Momente, die vor allem den ungewöhnlichen Darstellern zu verdanken sind. Hier möchte ich nur ein Beispiel nennen:
Ernst arbeitet als Diener für einen Maler, der ihn aus Afrika mitgebracht hat. Dieser Maler hat in diesem Buch die Funktion zu zeigen wie speziell der Umgang mit der Bevölkerung in den Kolonien ist und wie heroisch alles, was dort passiert, Zuhause dargestellt wird. Der Maler hat sich seit kurzem darauf spezialisiert, Bilder vom Kaiser in den Kolonien zu malen, obwohl dieser nie da war. Als wäre das nicht schon lächerlich genug, zeichnet er die Pflanzen im Botanischen Garten ab, damit die Bilder realistischer aussehen, dabei wächst keine der Pflanzen in Afrika. Ernst rächt sie auf seine Weise für das Arbeitsverhältnis, das an Sklaverei grenzt. Jeden Tag muss er eine Weinflasche für seinen Herrn öffnen. Er trinkt einige Schlucke ab und füllt die Flasche mit seinem Urin wieder auf. Es sind diese kleinen Begebenheiten, die winzigen Details, die dieses Buch zu etwas Besonderem machen.
Die chronologische Beschreibung der Ereignisse wird durch Briefe unterbrochen, die Thomas nach seiner Rückkehr nach Afrika an Florentines Bruder schickt. Durch diese Briefe erfahren wir in sehr kleinen Schritten, was nach dem Attentat mit den vier jungen Menschen passiert ist. Allerdings nur in Bruchstücken, weil Thomas in Afrika nur wenige Informationen aus Europa erhält und auf seine Briefe auch nur selten Antwort bekommt. Dieser gestörte Briefwechsel nimmt uns über Jahrzehnte mit und reicht bis in die Zeit des zweiten Weltkriegs hinein.
Wer historische Romane mag und den Kolonialismus mal aus einem ganz ungewöhnlichen Blickwinkel betrachten will, ist bei diesem Buch gut aufgehoben.
In Kürze
Titel: Berlin, Siegesallee
Autor: Max Annas
Verlag: rowohlt
Erschienen: 2024
Preis: 22 Euro