Und wieder ein Buch meiner persönlichen #12für2023. Die liebe Christine Westermann hat mich zum Kauf inspiriert, weil sie sehr von diesem Roman geschwärmt hat. Ich bin ihr sehr dankbar für diesen Tipp, denn von alleine wäre ich nie auf das Buch aufmerksam geworden. Dabei hat mich selten eine Geschichte so sehr in ihren Bann gezogen wie diese.
Unter Tage
Es ist der 27. Dezember 1974 als ein Unglück unter Tage 42 Bergmänner das Leben kostet. Der 16jährige Michel lebt damals mit seiner Familie im Norden Frankreichs und verliert seinen älteren Bruder bei der Katastrophe. Joseph wird lebend aus dem Stollen geholt und stirbt einen knappen Monat später im Krankenhaus, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Aufgrund des zeitlichen Abstands wird er nicht offiziell zu den Opfern des Unglücks gezählt und nicht so geehrt wie die anderen. Michels Familie zerbricht am Tod des Bruders und Sohnes, der Vater nimmt sich das Leben und gibt Michel in seinem Abschiedsbrief die Aufgabe, Rache zu üben. Von diesem Tag an dreht sich sein Leben um das Bergbau-Unglück und den Tod des Bruders. Er wird LKW-Fahrer und heiratet, die gesamte Freizeit geht für die Informationssammlung zum Unglück und die Einrichtung eines Gedenkortes in der Garage drauf.
Nach dem Tod seiner Frau ist Michel niemandem mehr Rechenschaft schuldig. Mit Mitte 50 kehrt er in seinen Heimatort zurück, um sich an der Zeche zu rächen. Er hat einen früheren Vorarbeiter als Sündenbock auserkoren. Diesem ging Profit über Sicherheit. Man hatte vor dem Unglück den Schacht nicht bewässert und durchlüftet, so dass ein einzelner Funke reichte, um ein verheerendes Feuer auszulösen. Michel freundet sich mit dem alten Mann an, um eine Gelegenheit zu bekommen, ihn zu töten.
Mehr möchte ich zur Handlung an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel noch: nach und nach wird deutlich, dass die Ereignisse nicht so waren, wie Michel sie sich 40 Jahre lang in seinem Kopf zurecht gelegt hat. Dessen wird er sich auf sehr schmerzhafte emotionale Weise bewusst.
Sehr ergreifend
Das Unglück mit 42 Toten hat es 1974 tatsächlich gegeben, die Geschichte von Joseph Flavent ist fiktiv, fügt sich aber absolut glaubwürdig in die historischen Ereignisse ein. Sorj Chalandon lässt seine Leserinnen und Leser tief in die Welt des Bergbaus eintauchen. Es entsteht ein sehr realistisches Bild von dem kleinen Ort, der vom Bergbau lebt, was für Zusammenhalt und ein Gefühl des Stolzes bei den Bewohnern sorgt. Die historischen Hintergründe sind hervorragend recherchiert und in eine bewegende Handlung gegossen. Gleichzeitig ist es auch ein politisches Buch. Die Geschichte von Michel, der im Grunde versucht, das Leben seines Bruders weiterzuleben, von einem Dort, das nie wieder dasselbe wurde wie vor dem Unglück, all das hat mich sehr berührt. Kitschig ist das Buch gar nicht, sondern sehr realitätsnah beschreibend. Ich lebe seit vielen Jahren im Ruhrgebiet, das auch nach dem Ende des Bergbaus, immer noch viele Erinnerungen daran in sich trägt und bin mir sicher, dass die Geschichte auch im Umfeld jeder Ruhrpott-Zeche funktionieren würde. Hätte mir vor der Lektüre jemand gesagt, dass ich Beschreibungen, wie z.B. das Duschen oder Umkleiden der Bergleute funktionierte, wissbegierig in mich aufsaugen würde, hätte ich es nicht glauben können. Aber genauso war es. Chalandon nutzt viele Fachbegriffe und erklärt einzelne Vorgänge sehr genau, langweilt dabei aber nicht, sondern zieht in seinen Bann. Für mich wird dieses Buch garantiert einen Topplatz in meiner diesjährigen Leseliste bekommen. Bücher mit so einer Kraft sind ein Geschenk.
In Kürze
Titel: Am Tag davor
Autor: Sorj Chalandon
Verlag: dtv
Erschienen: 2019
Preis: 11.99 Euro (Taschenbuch
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