In Kürze
Titel: Verbrenn all meine Briefe
Autor: Alex Schulman
Verlag: dtv
Erschienen: 2022
Preis: 23 Euro
Eine unglückliche Liebe mit realem Hintergrund
Ich habe dieses Buch ganz unvoreingenommen in die Hand genommen. Alex Schulman kannte ich bisher nicht und meine Kenntnisse der schwedischen Literaturszene beziehen sich ausschließlich auf den Bereich Krimi/Thriller. Die Geschichte hat mich von Anfang an in ihren Bann gezogen. Erst als der Name David Lagercrantz auftauchte, bin ich stutzig geworden. Er hat die Nachfolge von Stieg Larsson angetreten, um die Millenium-Reihe zu beenden – wobei wir wieder beim Thema Spannungsliteratur wären. Ich habe mich gefragt, warum eine der Figuren, noch dazu ein Autor, ausgerechnet einen solch bekannten Namen trägt. Meine Internetrecherche hat mich dann etwas schlauer gemacht: alle Personen in diesem Buch hat es tatsächlich gegeben. Die beiden Männer, die eine wichtige Rolle spielen, waren äußerst wichtig im schwedischen Literaturbetrieb und haben sich Zeit ihres Lebens gehasst, ihre Werke in Grund und Boden rezensiert. Hier bekommt man einen Blick hinter die Kulissen und erfährt, wie es dazu kommen konnte.
Die Rahmenhandlung
Auch wenn es sich um einen Roman handelt, trägt dieser viele autobiographische Züge. Alex, Vater von drei Töchtern, lebt in einer kriselnden Ehe. Seine Frau versucht mehrfach sich zu trennen. Bei einem Streit geht ihm auf, dass sowohl sie als auch die Kinder Angst vor ihm haben. Was er immer für Respekt gehalten hat, ist Panik vor seinen Reaktionen. Schockiert von dieser Erkenntnis macht er sich auf die Suche nach den Ursachen. Eine therapeutische Sitzung und das Nachdenken über seine Familiengeschichte bringen Alex darauf, seinen Großvater als Auslöser auszumachen. Auch wenn er lustig und unterhaltsam sein konnte, war er doch unberechenbar, oft gemein und verletzend. Als Kind musste Alex immer auf der Hut sein, um den Großvater nicht zu verärgern. Dieser Großvater war ein berühmter Schriftsteller. Die Archive sind voll mit Briefen, Büchern und Notizen. Alex hat also genug Material, um mehr über die Vergangenheit – und damit auch über sich selbst – herauszufinden.
Die Geschichte einer Liebe
Es ist das Jahr 1932. Sven Stolpe ist mit Mitte zwanzig bereits ein bekannter Schriftsteller und als Redner eines Kongresses geladen. Bei der Sigtuna Stiftung hatte er wenige Jahre zuvor seine Frau Karin kennengelernt. Die Tochter eines Chemie-Nobelpreisträgers ist sehr eigenständig, arbeitet als Übersetzerin und beide haben sich wahrscheinlich vor allem in den Intellekt des anderen verliebt. Schnell musste Karin allerdings feststellen, dass sie ihrem Mann nie genug ist. Er kritisiert sie bei jeder Gelegenheit, für die Art wie sie geht, isst, spricht und macht sie auf jede nur erdenkliche Art klein. Bei der Stiftung wollen beide den Sommer verbringen. Das Gebäude ist eine Mischung aus Burg und Kloster, idyllisch am Wasser gelegen und der perfekte Ort, sich zu erholen. Zu den Studenten, die zum Kongress eingeladen wurden, gehört Olof Lagercrantz. Mit Anfang zwanzig hat er seine Rolle noch nicht gefunden, er will Schriftsteller sein, Thema und Gattung fehlen ihm noch. Als sich Olof und Karin begegnen, entwickelt sich ganz langsam eine zarte, heimliche Liebesgeschichte. Karin fehlt aber der Mut, Sven zu verlassen. Als er eine der schlimmsten Erfahrungen ihres Lebens, die sie ihm im Vertrauen mitgeteilt hat, zu einem Roman verarbeitet und öffentlich vorträgt, ohne sie vorzuwarnen, ist das eine von vielen Taten, die die Beziehung weiter bröckeln lässt. Als es nicht mehr weitergeht, versucht Karin Sven zur Scheidung zu überreden und zieht zu ihrer Mutter. Als Sven dort aber herrisch auftaucht, sieht sie keine andere Möglichkeit als zu ihm zurückzukehren. Erst jetzt wird Sven der Betrug klar und er versucht, sich und Karin umzubringen. Angekündigt hatte er dies schon immer für den Fall, dass sie ihn jemals hintergehen sollte. Beide überleben und verbringen die nächsten 70 Jahre miteinander. Für Olof wird die unerfüllte Liebe DAS Thema seines schriftstellerischen Schaffens.
Die „echten“ Menschen dahinter
Sven Stolpe hat in seiner Karriere unzählige Bücher geschrieben. Als Romanautor und Literaturwissenschaftler hat er sich einen Namen gemacht. Sein Enkel hat für diesen Roman aufgedeckt, dass das betrogen werden sein Thema war. Seine Schriften haben oft religiösen Hintergrund und betonen die Reinheit der Frau.
Olof Lagercrantz wurde vor allem durch seine Rezensionen und literaturwissenschaftlichen Arbeiten bekannt, er war auch Chefredakteur einer Zeitschrift. In seinen Essays und Gedichten hat er immer wieder über eine unerfüllte Liebe geschrieben, die er auf das Jahr 1932 datiert.
Über Karin Stolpe erfährt man nur noch, dass sie „die Ehefrau von“ war. Ihre Eigenständigkeit als Übersetzerin wird nicht mehr erwähnt.
Meine Meinung
Alex Schulman ist ein wunderschönes Buch gelungen. Wir haben zum einen diese ganz zarte, verbotene Liebesgeschichte. Karin und Olof nähern sich vorsichtig an, immer in dem Wissen, dass Svens Rache enorm sein wird, wenn diese Affäre ans Licht kommt. Gleichzeitig erfahren wir viel über toxische Familienstrukturen und darüber, wie jemand, einfach nur durch kleine Gesten oder scheinbar nebensächliche Geräusche sein Missfallen kundtun kann und damit seine Umgebung dazu bringt, nach seinen Vorstellungen zu handeln. Hinzu kommt noch dieser Blick in die Literaturszene, ein anerkannter Autor, der im Privatleben ein absoluter Despot ist. Nicht zu vergessen ist außerdem der private Einblick, den Alex Schulman aus seiner Kindheit geben kann. Damals hat er häufig Zeit bei seinen Großeltern verbracht, ihr Verhalten komisch und zum Teil beunruhigend gefunden, kann es aber erst jetzt richtig einordnen, nachdem er die Details aus der Familiengeschichte kennt.
Ich hätte dieses Buch am liebsten an einem Stück gelesen. Es ist sprachlich toll, hervorragend komponiert – kurz gesagt: ich bin begeistert.